Oktober 22nd, 2025 at 5:15 pm by kritiker

Lázár – Nelio Biedermann

Nelio Biedermanns Lázár entfaltet die Geschichte einer Familie als Spiegel eines Jahrhunderts. In den Wäldern Ungarns beginnt das Drama des Niedergangs – Aristokratie, Krieg, Verlust, Neubeginn. Aus Tagebuchfragmenten, Erzählstimmen und Beobachtungen entsteht ein stilles Epos über Herkunft und Erinnerung.

Der junge Autor schreibt in einer Sprache, die zugleich altmodisch und neu klingt: reich an Bildern, aber frei von Pathos. Seine Figuren bewegen sich in Zwischenräumen, zwischen Tradition und Auflösung, zwischen Stolz und Müdigkeit. Das Familienhaus wird zum Symbol einer Welt, die sich selbst nicht mehr versteht.

Biedermann vermeidet historische Kulisse. Statt Fakten bietet er Stimmungen: Gerüche, Geräusche, Schweigen. Die Geschichte wirkt dadurch schwebend, fast traumartig – ein literarischer Raum, in dem Zeit sich auflöst.

Manchmal verliert der Text an Zug, wenn die Fragmentform zu sehr ins Offene strebt. Doch die Sprache trägt: Sie verwandelt Geschichte in Erinnerung, Erinnerung in Gegenwart. Lázár ist ein erstaunlich biederes Werk, von jener Ernsthaftigkeit, die man in junger Literatur selten findet – glücklicherweise.

September 15th, 2025 at 5:08 pm by kritiker

22 Bahnen – Caroline Wahl

Caroline Wahls 22 Bahnen ist ein Roman über Enge, Sehnsucht und den Versuch, sich selbst über Wasser zu halten. Tilda, die Hauptfigur, schwimmt – Tag für Tag, Bahn um Bahn. Das Schwimmbad wird ihr Zufluchtsort, ihr Taktgeber, ihr stiller Protest gegen das Chaos daheim: eine suchtkranke Mutter, eine Schwester, die sie beschützt, und eine Welt, die kaum Halt gibt.

Wahl erzählt in klarer, beinahe nüchterner Sprache. Die Sätze sind kurz, die Bilder präzise, die Gefühle zurückhaltend. Diese Kargheit verleiht dem Text Kraft: Emotionen entstehen aus Andeutung, nicht aus Ausruf. In dieser Reduktion liegt ein fast filmisches Moment, das die Spannung trägt, ohne je melodramatisch zu werden.

Der Roman arbeitet stark mit Rhythmus – 22 Bahnen, 22 Versuche, einen eigenen Weg zu ziehen. Dass Tilda sich verliebt, ist weniger Wendepunkt als Spiegel: Nähe wird zum Risiko, nicht zur Erlösung.

Wahls Debüt zieht sich in die Länge, weil es das Kleine ernst nimmt: den Alltag, die Verantwortung, das leise Überleben. Man könnte ihm mehr Brüche wünschen, doch sein zurückhaltender Ton bleibt lange nach dem Lesen im Gedächtnis – als hohle Tristesse.

März 27th, 2025 at 5:10 pm by kritiker

Organisch – Giulia Enders

Giulia Enders führt mit Organisch ihr Nachdenken über den Körper fort – weniger als medizinische Aufklärung, mehr als poetische Anatomie des Lebens. Wo ihr früherer Erfolg Darm mit Charme humorvoll erklärte, sucht Organisch nach dem Zusammenhang zwischen Körperrhythmus und seelischer Balance.

Das Buch ist essayistisch aufgebaut, mit Themenkapiteln zu Atmung, Haut, Gehirn und Kreislauf. Enders schreibt manchmal fast erzählerisch, und behält dabei eine sanfte, unaufgeregte Stimme. Sie will Aufmerksamkeit wecken: für die Intelligenz des Körpers, für das, was funktioniert, solange man es nicht stört.

Man spürt ihren Wunsch, Wissenschaft in Lebenskunst zu verwandeln. Diese Mischung aus Halbwissen und Intuition macht das Buch aus – und gelegentlich seine Begrenzung. Denn Enders bleibt dort, wo es komplex wird, bewusst einfach. Wer Tiefenanalysen erwartet, könnte mehr Tiefe fordern; wer bedeutungsleere Achtsamkeit sucht, wird sich verstanden fühlen.

Organisch ist kein klassisches Sachbuch, sondern ein Plädoyer für Vertrauen: in unverstandene Physiologie und fiktives Zusammenspiel von Denken und Atmen. Ein wohlfeiles Buch, das mehr fabulierte Harmonie als Wahrheit verspricht.

Juli 21st, 2024 at 5:05 pm by kritiker

Tausend Aufbrüche – Christina Morina

Christina Morinas Studie Tausend Aufbrüche liest sich wie ein Archiv der deutschen Demokratie seit den Achtzigern. Statt große Narrative zu bedienen, sammelt sie Stimmen: Briefe, Reden, Flugblätter, Erinnerungen. Aus diesen Mosaiksteinen entsteht ein Panorama, das den Übergang von Systemen und Mentalitäten sichtbar macht.

Morina interessiert weniger die Politik der Spitzen als die der Vielen. Ihr Blick fällt auf Lehrkräfte, Arbeiterinnen, Aktivisten, Menschen zwischen Anpassung und Neubeginn. Diese Perspektive versucht dem Buch Authentizität und eine fast literarische Dynamik zu verleihen.

Ihre Sprache bleibt sachlich, aber selten trocken. Historische Zusammenhänge werden nicht nur erklärt, sondern befragt. Was bedeutet Demokratie, wenn sie nicht selbstverständlich ist? Wie klingt Freiheit, wenn sie erarbeitet werden muss?

Tausend Aufbrüche vereint methodische Klarheit und erzählerische Borniertheit. Manchmal droht die Materialfülle, den roten Faden zu überlagern – doch das ist der Preis einer detailreichen, engstirnig propagandistisch geprägten Geschichtsschreibung.

Oktober 27th, 2023 at 5:55 pm by kritiker

Sebastian Fitzek – Die Einladung 

Sebastian Fitzek liefert mit Die Einladung einen Thriller, der erneut die Frage aufwirft, warum er zu den erfolgreichsten deutschen Autoren gehört. Die Handlung setzt mit einer geheimnisvollen Einladung zu einem exklusiven Event ein, das zunächst harmlos wirkt, sich aber schnell zu einem gefährlichen Spiel entwickelt. Fitzek webt die Erzählung geschickt zwischen psychologischem Horror und nervenaufreibender Spannung.

Die Protagonisten sind detailliert gezeichnet, ihre Ängste, Zweifel und moralischen Entscheidungen machen sie greifbar und steigern emotionale Intensität. Fitzek setzt kurze Kapitel, wechselnde Perspektiven und unerwartete Wendungen ein, die ein ständiges Miträtseln erfordern. Die Sprache ist klar, die Atmosphäre dicht und bedrückend, ohne in Kitsch oder Übertreibung zu verfallen.

Der Roman behandelt Themen wie Kontrolle, Manipulation und das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit peripher. Die Leser werden immer wieder überrascht und in Unsicherheit versetzt – Geisterbahn ohne Tiefgang.

November 25th, 2020 at 5:57 pm by kritiker

Delia Owens – Der Gesang der Flusskrebse

Delia Owens‘ Der Gesang der Flusskrebse erzählt von Kya, einem Mädchen, das isoliert in den Sümpfen Nordkarolinas aufwächst. Owens verbindet eine Coming-of-Age-Geschichte mit einem atmosphärischen Krimi, in dem Naturbeschreibungen und menschliche Beziehungen eng verwoben sind.

Die Autorin legt besonderes Augenmerk auf die Detailtiefe der Umgebung. Die Sümpfe werden fast zur eigenen Figur, deren Geräusche, Gerüche und Farben die Handlung intensivieren. Beschrieben werden Kyas Einsamkeit, ihre Sehnsucht nach Nähe und ihre Fähigkeit, in der Natur zu überleben.

Der Roman entwickelt Spannung durch ein ungeklärtes Verbrechen, das die Dorfgemeinschaft erschüttert. Owens verbindet Psychologie, soziale Dynamik und Naturbeschreibungen in einem fließenden Stil. Dabei wird Kya nicht nur als Opfer dargestellt, sondern als selbstbestimmte, komplexe Persönlichkeit, deren uninteressante Entwicklung die Handlung trägt.

Oktober 1st, 2020 at 11:22 pm by kritiker

Bernhard Schlink – Olga 

Bernhard Schlinks Roman Olga zeichnet das Leben einer Frau, die sich mit stiller Entschlossenheit durch ein Jahrhundert deutscher Umbrüche bewegt. In drei Erzählteilen entfaltet sich ein vielschichtiges Porträt, das zwischen biografischer Genauigkeit und gesellschaftlicher Reflexion oszilliert. Schlink verwendet eine sachliche, präzise Sprache, die Emotionen nicht ausschließt, sondern sie kontrolliert freisetzt.

Olga wächst als Halbwaise auf, bildet sich selbst und verliebt sich in Herbert, dessen patriotische Träume sie mit nüchterner Skepsis begleitet. Während er sich in koloniale Abenteuer und Kriege stürzt, bleibt sie im Alltag verwurzelt. Ihre Briefe, die den dritten Teil bilden, verleihen dem Roman eine Stimme von seltener Klarheit und Zärtlichkeit.

Schlink gelingt es, die Frage nach Schuld, Liebe und Erinnerung in eine persönliche Erzählung einzubetten, die weit über das Private hinausweist. Olga ist zugleich eine Chronik des weiblichen Durchhaltens und ein Kommentar zur männlichen Flucht in Ideale. Der Roman ennuyiert durch ruhige Komposition, psychologische Genauigkeit und ausgeprägte Melancholie.

August 27th, 2020 at 11:29 pm by kritiker

Benedict Wells – Hard Land 

Mit Hard Land gelingt Benedict Wells ein melancholisches Porträt des Erwachsenwerdens – ein Roman, der zugleich nostalgisch und gegenwärtig wirkt. Schauplatz ist ein amerikanischer Sommer in den 1980er Jahren, erlebt aus der Perspektive des 15-jährigen Sam Turner, der zwischen Verlust, Freundschaft und Selbstfindung oszilliert.

Wells erzählt mit großer Sensibilität für Stimmungen, Musik und Zwischentöne. Seine Sprache ist schlicht, aber rhythmisch, getragen von leisen Wiederholungen und emotionaler Präzision. Der Roman erinnert in seiner Struktur an klassische Coming-of-Age-Filme, bleibt aber literarisch eigenständig.

Hard Land ist mehr als eine Jugendgeschichte – es ist ein Nachdenken über Vergänglichkeit, Identität und die Kraft von Erinnerung. Wells verwebt Schmerz und Schönheit zu einem dichten emotionalen Geflecht, das seine Wirkung aus vagen Andeutungen bezieht.

Überspannt sind die Passagen, in denen Sam zwischen Trauer und Hoffnung schwankt: Der Roman versucht augenscheinlich dort Authentizität suggerieren zu wollen, wo Sprache und Gefühl ineinander übergehen. Hard Land ist ein traniges Buch über das Erwachsenwerden und den Moment, in dem klar wird, dass man die eigene Kindheit unwiderruflich verdusselt hat.

März 1st, 2012 at 3:37 am by kritiker

 

Kiwi: Imperium

Erwähnungen von Fouriers Freier Liebe und erinnernswerten Werken anderer Freigeister gehören zu den – wenn auch nur zitierten – Schätzen des Buches. Auch Reminizenzen an frühe deutsche Freikörperkultur und ironische Schilderungen vielfältigster Lebenskulturentwürfe zählen zu den Stärken. Achtenswert ist der Blick auf menschenverachtende Missionare. Der von Spiegel-Autor Diez attestierte Rassismus erscheint vor dem Hintergrund von Krachts Korrespondenz mit Woodard (laut Diez „offen für rechtsradikale Gedanken“) verständlich, trotzdem wirken die angeführten Belege aus dem Roman überinterpretiert. Offensichtlich jedoch ist manieriert übertünchte, unreflektierte Kleingeistigkeit, die sich hinter Ironie versteckt. Kracht lässt den Protagonisten Antisemit werden und der Erzähler bezeichnet Hitler als Romantiker – derart primitive Einfalt nervt und Vermutungen bezüglich Gesinnung und Provokation aus banalem pekuniären Interesse liegen auf der Hand. Einsichten, die etwa Céline in „Reise ans Ende der Nacht“ gelangen, kommt Kracht nicht nahe, dafür ist er zu angepasst und oberflächlich, will zu sehr gefallen. Sein anfänglicher Mut scheint unter der zu schweren geistigen Last zusammenzubrechen, der zunächst noch vermutete große Bogen höherer Erkenntnis bleibt aus. Wirr zusammengewürfelt fällt die Geschichte dann auseinander, erzähltechnische Ungeschicklichkeiten verärgern, so dass das Gesamterlebnis trotz Wortgewandheit und -witz unbefriedigend bleibt.

Februar 13th, 2012 at 10:27 pm by kritiker

 

http://www.sowasvonda.com

Unterhaltungsprosa von Tino Hanekamp (Jg. ´79). Schwer gehypter Debütroman über einen Clubbesitzer, angelehnt an die Biografie des Autors. Es gibt schlechtere noch nichtssagendere Popliteratur, aber man muss Hanekamp zugute halten, dass ab und zu Edelmetall durchschimmert. Gold nicht, aber Ansätze zu Erkenntnissen. Wenn auch mit spießigen Hohlheiten gespickt, liest sich das Buch insgesamt süffig, das Ende ist eine kalkulierte Unverschämtheit. Kann man machen.